Reformbedürftigkeit von Theologie und Kirche

Reformbedürftigkeit von Theologie und Kirche
Reformbedürftigkeit von Theologie und Kirche
 
Bereits während des christlichen Mittelalters hatten sich kaum lösbare Spannungen aus dem Versuch ergeben, eine religiös-weltliche Synthese, ein »Sacrum Imperium«, zu schaffen. Das weltliche Engagement geistlicher Fürstentümer und die Prunkentfaltung des Papsttums, das in seinem Machtstreben und seinen politischen Ambitionen mit dem Kaisertum konkurrierte, führten zu einer Verweltlichung, von der sich bereits im Hochmittelalter Gegenbewegungen wie die der Katharer und Waldenser abgrenzten. In ihrer Kirchenkritik stimmten die französischen Ketzer mit John Wycliffe und Jan Hus überein, die der päpstlichen Universalkirche ihre nationalkirchlichen Bestrebungen entgegenstellten und etliche Anliegen der Reformatoren von der Orientierung an der Bibel über den Laienkelch bis zur Kirchenkritik vorwegnahmen.
 
Schließlich war nicht einmal das Grundproblem bewältigt worden, das aus dem Übergang von einer kleinen Gemeinschaft der Gläubigen zu einer Volks- und Massenkirche erwachsen war: die durch den Übertritt ganzer Volksstämme nur oberflächliche Christianisierung der Gesellschaft, in deren Volksglaube und religiöser Praxis sich nicht nur zahlreiche Elemente des Aberglaubens erhalten hatten, sondern deren eigentliche Bekehrung noch ausstand. Damit waren die Priester, deren Ausbildung oftmals nicht einmal dafür garantieren konnte, dass sie die Zehn Gebote oder das Vaterunser erläutern konnten, lange Zeit restlos überfordert. Hinzu kamen die wenig vorbildliche und oft nicht nur in sexueller Hinsicht ausschweifende Lebensweise des Klerus, von der uns zahlreiche Visitationsprotokolle und Kirchenakten berichten, und die Vernachlässigung der Seelsorge, die sich zwangsläufig auch aus der schlechten Bezahlung vieler Landgeistlichen ergab.
 
Aber offenbar hatte sich auch die Wahrnehmung der Kirche durch die erstarkende Laienschaft gewandelt: Die Verrechtlichung der Heilsangebote, wie sie exemplarisch am Buß- und Ablasswesen deutlich wurde, und die scholastische Theologie, die sie hervorgebracht hatte, wurden zum Gegenstand der Kritik. Unterstützt durch den Rückgriff auf die Antike, den Renaissance und Humanismus erst möglich machten, erschienen nicht nur der zur Schau gestellte Reichtum der Kirche und der ständig wachsende Geldbedarf der Kurie als verwerflich; kirchlicher Besitz galt schon allein deswegen als Unrecht, weil er der weltlichen Gerichtsbarkeit und Besteuerung entzogen war.
 
Die Liste der Versäumnisse und Reformnotwendigkeiten war lang, und die wenigsten Klagen waren neu. Sicher, viele Quellen speisen sich aus der zeitgenössischen protestantischen Propaganda oder der antiklerikalen Satire und spiegeln womöglich nur verbreitete gesellschaftliche Vorurteile. Doch sie wurden unterstützt durch die humanistische Kritik eines Erasmus von Rotterdam oder die »Gravamina der deutschen Nation«, eine offizielle Liste mit Beschwerden, die 1451 an den Reichstag übergeben wurde. Sie prangerten die sittlich wie wirtschaftlich unerträglichen Verhältnisse der päpstlichen Kurie an und dokumentierten damit nachdrücklich, dass die bereits seit dem Konzil von Vienne 1311/12 geforderte »Reform an Haupt und Gliedern« noch immer ausstand, und das, obwohl sich die fünf Laterankonzilien ebenso wie die von Konstanz und Basel als Reformkonzilien verstanden hatten. Offenbar waren die Probleme seit langem bekannt. So beschäftigten sich die ersten Laterankonzilien im 12. Jahrhundert zum wiederholten Mal mit dem Ämterkauf, der Klerikerehe und der Pfründenhäufung. Ein Mindestalter für die Bischofswahl und eine verbesserte Klerikerbildung sollten die Qualifikation der Bewerber sichern. Die Forderung nach einer Predigt in der Muttersprache der Gläubigen beziehungsweise nach Schutz vor religiösem Schwindel bei Wallfahrten und Reliquienkauf oder die Vorschrift, dass keine Diözese länger als drei Monate verwaist sein darf (Residenzpflicht), gehören zur langen Liste der Reformanliegen des vierten Laterankonzils von 1215. Noch unmittelbar vor der Reformation erließ die fünfte Synode im Lateran 1512 bis 1517 Reformdekrete zu Zinsnahme, kurialem Steuerwesen, Religionsunterricht, Predigtwesen und Ablass. Aber allein die Tatsache, dass immer dieselben Missstände Gegenstand der Beratungen wurden, lässt deutlich werden, dass offenbar niemand imstande oder niemandem ernstlich daran gelegen war, das eindrucksvolle Reformprogramm auch in die Praxis umzusetzen.
 
Zu dieser bedrückenden Situation kam noch der Autoritätsverlust der Päpste hinzu, der aus dem großen Abendländischen Schisma, ihrem Exil in Avignon und dem Konziliarismus erwachsen war, obgleich sie an ihrem universellen Geltungsanspruch weiter festhielten und ihren Zentralismus sogar noch intensivierten. Damit beruhte die reformatorische Bewegung auf einem scheinbar widersprüchlichen Fundament: Zum einen stützte sie sich auf die breite Basis früherer Reformtendenzen, zum anderen speiste sie sich aus einer Kritik der Dekadenz, die sich hauptsächlich aus der halbherzigen Durchsetzung der Reformansätze ergab und die Interessen und Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten weitgehend ignorierte. Die einschneidenden Entwicklungen, die mit dem Namen Martin Luthers verbunden sind, sollten zwar den längst überfälligen Reformen zum Durchbruch verhelfen, die mittelalterliche Einheit der Kirche ließen sie hingegen zerbrechen.
 
Dr. Ulrich Rudnick
 
 
Geschichte der katholischen Kirche, herausgegeben von Josef Lenzenweger u. a. Neuausgabe Graz u. a. 31995.
 Zimmermann, Harald: Das Papsttum im Mittelalter. Eine Papstgeschichte im Spiegel der Historiographie. Mit einem Verzeichnis der Päpste vom 4. bis zum 15. Jahrhundert. Stuttgart 1981.

Universal-Lexikon. 2012.

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